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Glaubst du an das Schicksal?
Und wenn du es kennen würdest
– würdest du es annehmen?

Travor saß an einer Haltestelle und wartete auf den nächsten Bus.
Seine Knie zitterten. Er legte die Handflächen darauf, um das Beben zu beruhigen. Die Dämmerung glühte blutrot und schwerer Nebel kroch heran wie ein Geisterschiff – die ideale Kulisse für den letzten Tag seines Lebens.
Neben ihm saß eine Frau in einem abgetragenen Kleid. Ein Junge schlief in ihrem Schoß.
Ihre künstlichen Augen stierten ins Leere, während sie online durch die Weiten der virtuellen Anderswelt navigierte.
Täglich zweiunddreißigtausend herausgerissene Augenpaare, ging es ihm durch den Kopf.
Jede Minute vier Augen. Tag und Nacht. Und es war seine Schuld.
Seine Lippen formten stumm Befehle. Ein Aufblenden von Scheinwerfern riss ihn aus der Gedankenschleife. Die Frau mit dem schlafenden Kind stieg ein, er folgte. Die Fensterscheiben waren beschlagen und der Geruch von Urin und Schweiß schnürte ihm die Luft ab. Travor nahm Platz, schloss die Augen und versuchte, flach zu atmen.
Der Bus kam vor den massiven Toren zum Stehen. Der Scan durchzog das Fahrzeug, tastete die Arbeiter ab, Schicht für Schicht. Ein Chip hinter Travors Ohr täuschte den Online-Status vor.
Einen Moment lang herrschte Stille, bevor sich das Tor mit einem tiefen Dröhnen öffnete und die Durchfahrt freigab. Das Kind auf dem Schoß der Frau gluckste. »Alles in Ordnung«, sagte die Frau.
Ihre Stimme hallte zwischen seinen Schläfen wider.
Alles. In. Ordnung.
Der Busfahrer bremste ab und nahm die erste 180-Grad-Kurve. Ein Mann lachte laut.
Das Fahrzeug beschleunigte in der Kurve. Seine Gedanken wurden allmählich von dem monotonen Summen der defekten Heizung eingelullt.
Dann – unvermittelt – ein dumpfes Hämmern.
Seine Reflexe reagierten schneller als sein Verstand, aber gemäß der Trägheit wurde sein Körper nach vorn geschleudert.
Eins.
Reifen quietschten. Der Kopf eines Mannes knallte gegen die Fahrerkabine und zersprang wie eine Wassermelone. Die Frau mit dem Kleid folgte ihm, ihr Schrei brach abrupt ab. Der Junge – er konnte den Jungen nicht sehen.
Der Busfahrer trat noch einmal kräftig auf die Bremse.
Das Fahrzeug strauchelte, streifte einen Felsvorsprung.
Zwei.
Der Bus legte sich wie in Zeitlupe auf die Seite. Fenster zersplitterten. Ein Körper verschwand im Spalt zwischen Fensterrahmen und Asphalt. Drei. Splitter bohrten sich in Travors Handflächen, als er nach dem Fensterrahmen griff und sich hochzog. Er stemmte die Beine gegen die Decke und schwang sich auf den Wagenoberbau.
Bevor der Bus die Schutzplanke durchbrach, konnte er sich abstoßen.
Das Fahrzeug zögerte, wie zum Abschied, und stürzte den Hang hinunter. Das Geräusch hallte wie ein Gewitterdonner nach.
Er lag auf dem Rücken. Der Schweiß auf seiner Oberlippe schmeckte salzig.
»Vier«, flüsterte er.
Über ihm erschien das ramponierte Gesicht des Busfahrers. »Identifiziere«, forderte er ihn auf.
Travor trat ihm, wissend, dass es sich bei dem Klon nicht um ein kampferprobtes Modell handelte, die Beine weg, griff nach einer Glasscherbe und rammte sie ihm in die Schläfe. Mit einer einzelnen Hebelbewegung entfernte er die Speicherplatine.
Der leere Körper sprang auf, rannte einige Kreise und stolperte über den Abgrund.
Ein Feuerball stieg hoch, die Flammen hüllten die Felsen in flammendes Rot. Im flimmernden Licht kämpfte Travors Verstand gegen die Gewissheit: Sein Plan war gescheitert.
Ein Auflachen durchbrach die Nacht. Er riss seinen Kopf herum.
Mitten auf der Straße kniete ein Mädchen. Ihre Augen waren starr auf den Feuerball gerichtet.
Er trat vor sie und ging in die Hocke. »Hallo?«
Ihr Körper war von Schürfwunden übersät. Aus ihrem linken Ohr lief ein schmales Blutrinnsal. Sie schien ihn nicht zu sehen.
»Hallo?«, wiederholte er.
Endlich sah sie ihn an. Augen wie zwei blaue Bergkristalle durchbohrten ihn. Ihr Gesicht besaß eine faszinierende Symmetrie, eigentümlich und kühn, wie Michelangelos Pietà. Als sich ihre Augen trafen, wurde ihr Blick schlagartig klar. Sie hob langsam den Arm und berührte vorsichtig seine Wange.
Niemand darf mich so berühren, flüsterte ein Teil von ihm.
Ihre Finger wanderten hinab zu seinem Kinn. »Hast du die Rechner gesprengt?«, flüsterte sie.
Sein Verstand setzte einen Augenblick aus – ich bin aufgeflogen!
»Wer bist du?«, zischte er.
Die Augen des Mädchens, das reinste Aqua Aura, musterten sein Gesicht. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn. Für einen Moment fühlte es sich an, als hätte er sich von der Gravitation gelöst.
Was geschieht hier nur?
Travor sog die Luft ein, fühlte ihren warmen Atem. Die Kälte um sein verschlossenes Herz fiel von ihm ab.
Ihre Augenlider flatterten. Sie kippte vornüber, doch er hielt sie fest, jede Faser seines Seins am Abgrund einer Entscheidung.

Evangelista streckte ihre Hand aus dem Fenster und ließ sie durch den warmen Luftstrom gleiten, der vom Tal hinaufstieg. Ihre Finger folgten der sanften Bewegung der Luft.
Ein Offroader fuhr zu dicht auf.
»Überhol doch, Arschloch«, rief Cat und streckte den Mittelfinger aus dem Autofenster.
»Cat!«, tadelte sie Lyla.
Das Fahrzeug – neueste Generation Solargeländewagen – zog vorbei.
Lyla kämpfte mit der Schaltung, während sich das klapprige Auto die Steigung hinauf quälte.
Der Himmel in Ozeanblau spannte sich über den Gesteinsriesen, die in der sengenden Hitze ruhten.
»Scheiße, ist das hoch« Cat drückte sich in den Rücksitz.
Die Straße schlängelte sich unaufhaltsam höher am Bergrücken, der wohlklingend Höllengrund hieß, entlang.
»Schaltest du die Musik bitte aus?«, fragte Evangelista ihre Tante Lyla und deutete auf den Kasten.
»Aber es ist aus«, erwiderte Lyla. Sie schenkte ihr einen besorgten Blick. »Hast du die Tablette genommen?«
»Habe ich«, antwortete Evangelista.
Cat legte von hinten eine Hand auf ihre Schulter.
Evangelistas Blick schweifte über eine der Felsformationen, sie standen wie Wächter am Rande des Abgrunds.
»Das sind unsere sieben Kumpels, es gibt sogar eine Legende. Es heißt, die beschützen uns«, sagte Lyla.
Evangelista schluckte den aufsteigenden Kloß in ihrem Hals hinunter. Selbst die Aussicht auf täglich warmes Essen und ein eigenes Zimmer bot ihr keinen Trost, denn sie wusste, was sich hinter der malerischen Kulisse verbarg: ein Ort ohne Entkommen.
Lyla bremste fast vollständig ab und fuhr in die nächste Haarnadelkurve. Sie lenkte das Fahrzeug durch enge, in Stein gehauene Schleifen. Von den Flanken der Steilwände hingen wilde Ranken herab – wenn Überwachungstechnik angebracht war, dann war sie unsichtbar.
Am Ende der Straße erhob sich ein gewaltiges Eisentor, das sich nahtlos bis zur Höhe der umgebenden Wände erstreckte. Lyla winkte, und die schweren Gusseisentore setzten sich in Bewegung. Ein grollendes Klirren aus Metall auf Metall ertönte. Die massiven Eingangsportale schoben sich langsam zurück.
Ein haardünner Lichtstrahl glitt präzise über die Karosserie und wanderte langsam über ihre Körper.
Als der Strahl vorüber war, stieß Cat hörbar den Atem aus.
Lyla lenkte den Wagen geschickt zwischen zwei Betonplatten mit abgedunkelten Glasplatten hindurch. Sie fuhren einige Meter steil hinauf, bevor sie um die Ecke bogen.
Pflanzen, wie Evangelista sie in dieser Höhe nicht erwartet hätte, säumten den Rand der Felsen. Die Straße flachte ab und öffnete den Blick auf eine weite Hochebene. Ein riesiges Herrenhaus thronte am Ende einer von alten Bäumen gesäumten Allee.
Es war, als würden sie durch ein Portal in eine verborgene Welt treten – der Anblick glich einem verlorenen Paradies.
Ringsum breiteten sich üppige Felder in sattem Grün aus, eingebettet in das raue Gebirge, dessen karge Felsen sich wie die Ruinen alter Titanen gegen die tief hängenden Wolken reckten.
Evangelista und Cat tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Bilder aus den Archen waren rar, und da Evangelista jedes einzelne von ihnen kannte, wusste sie genau, dass von diesem Ort keine Aufnahmen existieren.
»Endlich zu Hause!«, sagte Lyla und lockerte ihren Schal. Sie betätigte den Schalter und das Fenster glitt nach unten. Der Duft von frischem Gras erfüllte den Wagen.
Fahrzeuge kamen ihnen entgegen, allesamt nagelneu und mit Solarflügeln. Die meisten fuhren auf einem Gestell mit zwei Rädern, das Evangelista einmal auf einem Bild gesehen hatte. Unfassbar, wie sie das Gleichgewicht halten konnten.
Sie fuhren an runden, ebenerdigen Häusern vorbei, die sich harmonisch in die Felder fügten. Lyla erhöhte das Tempo, aber Evangelista entgingen die Schatten nicht, die sich zwischen den hohen Gewächsen bewegten.
Lyla lenkte das Fahrzeug in eine abzweigende Straße, sie war pfeilgerade und führte um einen Hügel herum.
»Wie heißen die?«, fragte Evangelista und zeigte auf dunkelgrüne Büsche an den Felshängen. Sie sahen aus wie dunkle Flammenzungen und hoben sich seltsam von der umgebenden Vegetation ab.
»Schön, dass du fragst, das ist unsere heilige Pflanze«, sagte Lyla mit einem Lächeln auf den Lippen. »Das sind Wacholderbäume. Früher war die ganze Hochebene dicht bewachsen. Jetzt sieht man sie nur noch vereinzelt.«
»Und was kann die so?«, fragte Cat.
»Na ja, vor allem heilen«, sagte Lyla, »aber das hat einen Preis. Sie nimmt dafür ein kleines Stück der Seele.«
»Und ihr glaubt so was?«
Lyla ignorierte die Frage.
Die Straße führte zu einer kleinen Siedlung. Evangelista sah große vierbeinige Gestalten hinter einem halbhohen Zaun. Soweit sie wusste, waren es Pferde. Ein Tier, das es seit fast hundert Jahren nicht mehr gab.
»Und das hier ist Neudorf. Schau, ich wohne da oben.« Lyla zeigte auf eine Baumreihe auf dem Berg, aus der ein ausladendes Dach herauslugte.
Je höher sie fuhren, desto lichter wurden die Häuserreihen. Oben schien die Spätsommersonne und verwandelte die Straßen in goldene Flüsse. Selbst das Grün schien zu leuchten. Ein einstöckiges, längliches Haus, gestützt von einer halbhohen Steinmauer, thronte auf der Hügelspitze. Es sah aus wie ein überdimensionales Hausboot, das bei der letzten Sintflut gestrandet war. Seine gesamte Südseite bestand aus einer einzigen Fensterfront. Lyla steuerte in die dem Wald zugewandte Einfahrt.
»Wir sind da«, verkündete sie.
Cat pfiff anerkennend.
Lyla stellte den Motor ab und reichte Evangelista die Schlüssel. »Ich lasse euch den Wagen da, aber nur für den Notfall.«
Evangelista stieg aus und betrachtete das Haus. Früher hatte ihr Vater hier gelebt. Sie versuchte, es durch seine Augen zu sehen, einen flüchtigen Eindruck davon zu bekommen, warum er diesen Ort so gehasst hatte.
Lyla öffnete die mit Rauten durchzogene, mit Polster beschlagene Tür.
Von innen war das Haus nicht weniger eindrucksvoll. Der Flur mit vielen Kronleuchtern zog sich über die gesamte Hausbreite. Überall standen Regale, vollgestopft mit Büchern. Da erkannte Evangelista, dass ihre Tante und ihr Vater – entgegen seinen Behauptungen – doch Gemeinsamkeiten hatten. Sie wusste kaum etwas über Lyla. Er hatte sie in seinem Leben nur ein paarmal erwähnt. Sie arbeitete viel und hatte keine Kinder. Ihr Vater meinte einmal, es sei besser so.
»Hier ist die Küche«, sagte Lyla und deutete nach links. »Nehmt euch einfach, was ihr braucht.«
Doch sie lief bereits weiter, bevor Cat oder Evangelista einen genauen Blick in den Raum werfen konnten.
»Und hier hinten sind die Schlafzimmer. Die letzte Tür am Ende des Ganges führt zum Badezimmer. Das Zimmer auf der Südseite, mit dem phänomenalen Ausblick, bekommst du«, sagte Lyla und verschwand in der Zimmertür.
Evangelista folgte ihr.
»Ich schlafe fast immer hinten, da ist es dunkler. Cat, du kannst die Nacht entweder bei Evangelista oder auf dem Sofa schlafen, wie es dir lieber ist.« Das Zimmer war riesig, und eine schmale Steinterrasse führte direkt hinunter in den Garten. Das mit geschnitzten Blättern verzierte Bett und der Tisch an der Wand mit geschwungenen Beinen schienen aus einem anderen Jahrtausend zu stammen. Aber ein überdimensionierter Ofen in der Mitte des Raumes nahm den meisten Platz ein.
Cat lugte durch den Türrahmen. »Oh«, entfuhr es ihr.
»Die Nächte sind hier oben kalt, trotz der Dürre – das werdet ihr merken, wenn die Sonne untergeht«, sagte Lyla und zeigte auf den Ofen. »Aber dieses Ding heizt wie die Hölle. Ach ja, und manchmal singt es regelrecht. Hier oben ist es immer windig, also wundert euch nicht.«
»Hey Lyla«, mischte sich Cat ein, »wenn dein Palast hier weiter stehen soll, dann halte Angel davon fern! Sie hat unsere Heimküche fast in die Luft gejagt, sie ist ein richtiger Feuerteufel.«
»Danke«, sagte Evangelista.
»Nichts für ungut«, erwiderte Cat.
»Mädels, ich ziehe mich jetzt um und fahre ins Krankenhaus. Heute Abend steht eine wichtige Operation an.« Sie kramte in ihrer Tasche und beförderte eine ovale Scheibe heraus.
»Die habt ihr?«, sagte Cat. »Ihr seid ja ein paar abgefahrene Ökofreaks! Und dann einen auf Natur machen.«
Lyla übergab Evangelista den Spiegel. Er fühlte sich kühl in ihrer Hand an. »Ich dachte, ihr lebt offline«, entgegnete Evangelista und betrachtete den Gegenstand.
»Ja, früher schon, aber jetzt hat jeder einen«, meinte Lyla. »Aber freu dich nicht zu früh, die meisten Funktionen kannst du bei uns nicht nutzen. Wenn du dich ein wenig eingelebt hast, bekommst du mehr Freiheiten. Ihr könnt ein paar Spiele spielen und euch einlesen. Alles, was ihr an Informationen braucht, findet ihr darin.«
Sie stockte. »Mist, ich habe den Einkauf vergessen, aber das machen wir morgen zusammen. Ich habe frisches Maisbrot und ein paar Aufstriche vorbereitet.«
»Lyla, wir kommen zurecht«, sagte Evangelista.
»Na ja, in Ordnung, dann macht … ich weiß nicht, was Mädels in eurem Alter so machen.« Mit diesen Worten verschwand sie im gegenüberliegenden Zimmer.
Cat warf Evangelista einen Blick zu. »Siehst fertig aus.« »Ich muss mich kurz hinsetzen, mir ist schwindelig.«
»Alles klar, bin draußen eine rauchen. Pfeife oder huste, wenn Lyla kommt.«
»Mache ich.«
Evangelista ließ sich auf die Couch fallen. Offenbar vertrug sie die Höhe nicht gut. Sie blätterte in einem Buch – The Ark: Company of Hope for Tomorrow – bis sie den vertrauten Geruch wahrnahm.
Cat schielte ihr über die Schulter. »Die haben eine Schraube locker«, meinte Cat und setzte sich zu ihr.
Evangelista legte ihren Kopf auf Cats Schulter. »Ich will zurück.«
»Jetzt komm schon, Kleines, schau dich doch um. Ich werde morgen wieder zu den Ratten zurückkehren, aber du … Angel, du hast den Jackpot!«
»Ich weiß, ich sollte dankbar sein«, murmelte Evangelista.
Genauso wie Evangelista hatte Cat die letzten Jahre im Heim verbracht, weil sie keine Familie mehr hatte, die sich um sie hätte kümmern können. Cats Vater war tot, genauso wie Evangelistas. Doch im Gegensatz zu Evangelistas Mutter, saß Cats für den Mord an ihrem Vater im Hafthaus.
Es stimmte Evangelista traurig, dass ihre Freundin morgen ins Heim zurückkehren würde. Cat war zweiundzwanzig, fünf Jahre älter als sie, und erfahren. Insgeheim bewunderte sie ihre Freundin für deren Mut, sich immer wieder mit der Heimleitung anzulegen und die Fähigkeit, jeden Mann um den Finger zu wickeln. Und Cat war schön, auf eine sinnliche Weise, die Evangelista in jeglicher Weise fehlte. Cat war all das, was sie nicht war. Unbeschwert, begehrenswert, lustig.
»Die Wolken berühren fast den Boden«, bemerkte Cat nach einer Weile.
Ein fensterloser Kastenwagen glitt lautlos die Straße hinauf. Im Inneren saßen zwei Männer, die in ihren vermummten Anzügen kaum voneinander zu unterscheiden waren.
Lyla betrat das Wohnzimmer. Ihr Blick wanderte kurz aus dem Fenster. »Ah, das sind die Wasserwächter. Hinter dem Haus am Wald steht eine Pumpstation, sie kontrollieren sie jeden Abend«, sagte sie und zog dabei einen leuchtend roten Blazer über. »Ich bin rund um die Uhr erreichbar, nur um zwei Uhr morgens nicht – da ist die Versammlung.«
»Wir kommen klar, Lyla«, rief Cat. »Jetzt verschwinde!«
Die Tür schlug zu. Die beiden sahen Lyla durch das Fenster hinterher. Sie fuhr auf einem dieser Zweirad-Gestelle davon.
»Ich glaube, die neue Mutterrolle macht ihr zu schaffen«, sagte Cat. Evangelista lachte auf. »Ja, das Gefühl habe ich auch.«
»Also …«, sagte Cat.
»Also was?«
»Hintern hoch! Ich brauche was zum Trinken.«
»Aber Lyla hat gesagt, das Auto ist nur für einen Notfall«, wandte Evangelista ein.
»Unseren letzten gemeinsamen Abend trocken zu feiern, ist ein Notfall«, entgegnete Cat. »Du kannst doch diese Kiste fahren?«
»Ich kann alles fahren.«
Cat ahnte nicht, wie oft sie ihren Vater betrunken aufsammelt hatte.
Cat zog Evangelista von der Couch. »Ab ins Auto!«
»Wir schauen aber nur, und wenn es nichts gibt, fahren wir gleich zurück?« »Ja, klar«, versicherte ihr Cat.
Evangelista und Cat mussten nicht lange suchen, da es nur ein Zentrum gab. Cat lotste sie zu einem kleinen, beschaulichen Laden und da Lylas altes Auto so auffiel, parkten sie um die Ecke.
»Gib mir deinen Spiegel«, sagte Cat.
Evangelista übergab ihr das ovale Glasstück.
»Du wartest hier«, sagte Cat und sprang aus dem Wagen.
»Aber …?«
»Du bist minderjährig, Kleines, und das sieht man.«
Sie tätschelte ihr den Kopf und schlug die Wagentür zu. »Lass mich nur machen!«
Evangelista mochte Cat, aber sie zweifelte daran, ob es eine gute Idee gewesen war, sie mitzunehmen.
Es war früher Abend, und der Wind legte sich plötzlich. Die Sonne brannte unerbittlich, und das Auto glühte in der Hitze. Evangelista ließ die Fenster herunter, um ein wenig frische Luft hereinzulassen.
Sie saß im Auto und betrachtete eine Gruppe von Menschen. Ein älterer Mann stach ihr ins Auge. Er saß auf einer Bank, zwei junge Frauen diskutierten lebhaft neben ihm. Trotz der sägenden Hitze hatte er ein Sakko aus dunklem Tweed an, darunter ein Hemd und sogar eine Weste. Eine der beiden jungen Frauen trug ein weites Kleid aus dunkelblauem Samt. Ihre Füße steckten in glänzenden Schnürstiefeln, die Haare trug sie zu einem lockeren Dutt. Die zweite junge Frau trug eine enge Lederjacke über einem schlichten, weißen Hemd, das lässig in ihre hochgeschnittene Hose gesteckt war. Die Kleidung erinnerte Evangelista an die aristokratischen Figuren aus den alten Schwarz-Weiß-Filmen.
Sie spürte, wie sie beobachtet wurde, und drehte instinktiv den Kopf.
Auf der anderen Straßenseite stand eine alte Frau, die sie wortlos anstarrte. Ihr Blick war durchdringend und ihr graues Kleid, im Gegensatz zu den anderen Archebewohnern, zerschlissen. Ihr Haar war zu einem Dutt hochgesteckt, aber aus diesem ordentlichen Knoten lösten sich dünne, weiße Strähnen, die wie Spinnweben in der leichten Brise um ihr Gesicht wehten und ihr ein fast geisterhaftes Aussehen verliehen.
Evangelista winkte zögerlich, doch die alte Frau rührte sich nicht. Evangelista biss sich auf die Lippe und blickte nervös zu dem Laden. Warum brauchte Cat denn so lange?
Sie blickte zurück und stellte erstaunt fest, dass der Gehweg leer war. Von der alten Frau fehlte jede Spur. Evangelista kämpfte gegen das aufkommende Gefühl des Unbehagens an.
✽✽✽
Cat sprang in den Wagen. »Hat ein bisschen länger gedauert.«
Sie fächerte sich Luft zu. Unfassbar, was geschehen war. Wenn es sich nicht so abgedroschen anhören würde, hätte sie glatt behauptet, sie wäre eben ihrem zukünftigen Mann und dem Vater ihrer Kinder begegnet.
Evangelista startete den Motor. »Da war eine alte unheimliche Frau.«
»Hier sind alle unheimlich«, entgegnete Cat. »Wie auch immer, ich habe nichts auftreiben können. Aber das ist halb so schlimm, ich habe einen Typen getroffen.«
Schon der Gedanke daran, wie er sie mit seinen Blicken fast ausgezogen hatte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Verdammt, der Typ war heiß!
Sie zog den Ärmel ihrer Bluse hoch. »Lies vor!»
Angel schielte auf ihren Unterarm. »Lin … irgendwas Höhe. Lindenhöhe?«
»Er hat einfach meinen Arm genommen und es mir draufgeschrieben – ist das nicht total romantisch?«
»Bizarr«, antwortete Angel trocken.
»Er hat gesagt, bei diesem großen Haus vor den Toren sei heute eine kleine Party, dort gibt es was zu trinken.« Cat löste ihre Haare und durchwühlte ihre schweren schwarzen Locken mit den Fingern.
»Ich habe einen Vorschlag: Wir machen eine kleine Erkundungstour.«
»Nein! Das ist doch unser letzter Abend«, erwiderte Angel.
Cat schnaubte. »Weißt du, deswegen will dich keiner vögeln.«
»Cat!« »Tut mir leid, aber überleg mal: Eine bessere Gelegenheit, dich umzuschauen, und das mit deiner besten Freundin, die bekommst du so schnell nicht wieder.«
Sie schwiegen, bis sie die Einfahrt erreichten. »Wir schauen nur kurz?«, fragte Angel und stellte den Motor ab.
Cat jubelte. Sie stiegen aus.
»Geht das denn so?«, fragte Angel. »Wir fallen doch auf.«
»Mach dir nicht so viele Gedanken, du siehst dann immer so zornig aus. Bei deinen Augen schaut kein Mensch an dir hinunter.«
Noch war Angel keine Konkurrenz, obwohl sie mit ihrer unschuldigen Masche jetzt schon mehr Beachtung bekam als sie. Aber die Typen wollten keine sehnsuchtsvollen Blicke – das, was sie wollten, bekamen sie nur bei ihr.
»Gib dich nur nicht als meine lesbische Freundin aus, okay?«
»Nur wenn du mir das Zeichen gibst.«
»Gutes Baby! Schlüssel?«
»Habe ich«, antwortete Angel und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche.
Die Lichter der Häuser säumten den Hügel wie eine Perlenkette. Am Himmel zeichnete sich der Sichelmond ab, umkreist von den vielen Raumstationen. Von der Arche aus schien der Mond fast greifbar. Cat seufzte. Ihre Mutter hatte ihr, als sie klein war, die Geschichte von einem Mondprinzen vorgelesen. Sie hatte sich ihr halbes Leben heimlich diesen Mondprinzen ausgemalt. Aber das Leben war das, was es war, und sie war überzeugt davon, sich ihren Prinzen heute Abend zu angeln. Freundin hin oder her.
Sie folgten einer Karte aus dem Archiv der Arche. Dieser Karte nach führte ein Pfad durch Waldfrieden direkt zu diesem großen Haus. Sie überquerten die Felder und bleiben am Waldrand stehen.
Angel prüfte die Karte. »Direkt da durch.«
Cat schielte ihr über die Schulter. »Sieht nicht weit aus.«
Die Dämmerung legte ihren Schleier über den Hügel, als sie den Wald betraten. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in das Dickicht vordrangen, sank die Temperatur. Eine feine Gänsehaut überzog Cats Arme. Die Äste über ihnen woben ein dichtes Netz aus Schatten, die auf dem Boden tanzten. Die letzten Lichtfetzen des Tages wurden von den dichten Baumkronen verschlungen.
Hand in Hand und mit zögerlichen Schritten gingen sie weiter, umgeben von einer erdrückenden Stille, die nur gelegentlich vom Rascheln des Unterholzes durchbrochen wurde. Der Weg schien endlos zu sein.
»Wie weit noch?«, fragte Cat.
»Keine Ahnung, wir müssten schon längst da sein«, sagte Angel.
Im Norden überflog eine Drohnenstaffel der Falken den Wald. Zwischen den Bäumen gähnte die Dunkelheit immer tiefer. Als die Drohnen verstummten, blieb nur das leise Knirschen unter den Füßen der beiden Frauen. Cat wollte das unangenehme Gefühl nicht in Worte fassen, und so stieg die Anspannung mit jedem weiteren Schritt. Ein Ende des Waldes war nicht in Sicht. Eine Wolke schob sich vor den Mond, und für einen Moment standen sie in fast vollkommener Dunkelheit.
Plötzlich wurde die Stille von einem Knacken durchbrochen. Dort, wo das Geräusch herkam, trat ein Schatten aus dem Wald.
»Scheiße!«
»Was ist?«
»Siehst du es nicht?«, flüsterte Cat, die Augen in die Dunkelheit gerichtet.
»Da steht jemand.«
»Cat, das ist nicht witzig.«
»Pscht!«
Über ihnen zog die Wolke weiter, und das bleiche Licht des Mondes kehrte zurück. Die Bäume standen wieder sichtbar am Wegrand, ihre Schatten lang und verzerrt. Ein mannshohes Biest stand vor ihnen. Es ähnelte einem Rind und trug ein mächtiges Gerüst auf dem Kopf. Reglos stand es da und gaffte.
»Scheiße«, entfuhr es Angel.
»Glaubst du, der ist echt?«, flüsterte Cat.
»Ich möchte es nicht herausfinden.«
Das Tier setzte sich in Bewegung. Es schritt erst gemächlich, dann wurde es immer schneller. Seinen Körper dem Wald zugeneigt, blieb es auf ihrer Höhe stehen. Dann drehte es seinen Hals ruckartig und richtete den Blick direkt auf sie.
»Fremd«, sagte es mit einer eintönigen Stimme und sprang zurück in die Dunkelheit.
Cat schrie auf und stürmte los.
Angel folgte ihr.
Zusammen liefen sie so lange, bis sie aus dem Wald heraus waren. Unter einer Laterne auf der Rückseite des großen Hauses hielten sie, nach Luft schnappend, an.
Cat fluchte. »Was war das denn bitte?«
»Ein Hirsch, ich habe so etwas auf einem Bild gesehen«, sagte Angel.
»Meinst du, der war echt?«
»Das kann nicht sein«, sagte Angel, die Hände in die Knie gestützt.
»Aber was wollte das Ding von uns?«
»Vielleicht bewacht es den Weg«, sagte Angel. »Er hat fremd gesagt.«
»Die Mistviecher können reden!« Cat schnaufte verächtlich. »Die haben echt einen Schaden hier.« Sie richtete sich auf und zupfte ihre Bluse zurecht.
Angel warf einen Blick zurück. »Cat, ich habe kein gutes Gefühl, lass uns bitte zurückgehen? Wir können ja entlang der Straße zurücklaufen.«
»Mach dir mal nicht ins Höschen – wir sind doch schon hier. Wir schauen kurz um die Ecke.« Sie würde sich die Chance auf ihren Mr. Charming durch den kleinen Vorfall nicht versauen lassen. Sie hatte nur diesen einen Abend.
Sie umrundeten das Gebäude und bogen in die Allee ein.
Dumpfe Akkorde drangen zu ihnen. Es war ein aufregender, betörender Klang.
Abseits der Allee, am Feldrand, erkannte Cat Silhouetten vor einem Lagerfeuer. Die Mädchen trugen lange, biedere Kleider und ihre Haare in einem Knoten, so wie Lyla. Die Typen hatten fast alle blaugraue Hemden.
Cat schlussfolgerte, dass es sich um ein Internat handeln musste. Ihr Zukünftiger war nicht nur attraktiv, sondern auch clever. Ausgezeichnet, dachte sie.
»Und jetzt?«, fragte Angel.
»Wir fragen nach einem Getränk, das funktioniert überall.« Mit diesen Worten marschierte sie los.
Sie verließen die Allee. Erdklumpen bildeten sich an ihren Schuhen. Cat schüttelte die Klumpen ab und schritt selbstsicher an einer Gruppe vorbei. Sie lächelte über die Schulter zurück; es war genauso, wie sie gesagt hatte: Niemand nahm Notiz von ihnen. Beim Näherkommen erkannte sie einen kleinen Verschlag, aus dessen Doppelfenster Fläschchen gereicht wurden.
»Das ist die Elite, die sich am Arsch der Welt verschanzt«, sagte Angel.
»Nicht so laut«, entgegnete Cat.
Lautsprecher krächzten, vom Feuer ertönte ein weiterer Gitarrenriff. Er wurde von wohlgefälligen Pfiffen begleitet.
Cat reckte den Hals. »Komm, wir schauen mal«, sagte sie und schob sich ins Gedränge.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Angel stolperte und einen Typen mit einer hässlichen Mütze anrempelte. Er drehte sich um.
»Entschuldige«, stotterte Angel.
Der Blondschopf musterte sie. Er führte eins der Fläschchen an den Mund, lächelte zuvor aber zweideutig, und nahm einen großen Zug.
Mr. Charming – Ausweichplan, vermerkte Cat. Sie zog Angel am Arm. »Komm weiter!«
Sie kämpften sich zur Feuerstelle vor. Unterwegs fischte sie sich eins der abgestellten Fläschchen und prostete Angel zu. Als sie aus der Menge traten, und Cat ihr Objekt der Begierde entdeckte, blieb sie mit offenem Mund stehen.
Angel stieß gegen ihren Rücken. »Was ist?«
»Da, das ist er«, antwortete Cat und deutete mit dem Finger auf den Typen mit der Gitarre.
Ihr Mondprinz saß auf einem Baumstamm, auf seinem Schoß eine schwarze glänzende Gitarre. Kinnlange, dunkle Strähnen umrandeten seine ungewöhnlichen Gesichtszüge, während er auf die Akkorde schaute. Er lachte und entblößte eine schneeweiße Zahnreihe. Verdammt, sah er gut aus!
Wie durch einen unsichtbaren Faden fing er ihren Blick auf. In seinen unnatürlich blauen Augen lag eine gewaltige Kraft.
Angel krallte sich in ihren Unterarm. »Cat, lass uns bitte gehen, es hört sich verrückt an, aber ich habe ihn schon einmal gesehen.«
Der Typ mit den blauen Augen spielte weiter, ohne sie nur einen Moment aus dem Blick zu lassen.
»Spinnst du?«, antwortete Cat.
Angel rüttelte an ihrem Arm. »Cat? Hier stimmt etwas nicht, gehen wir bitte zurück.«
»Jetzt stell dich mal nicht so an«, entgegnete Cat.
Der Typ übergab die Gitarre und stand auf. Er kam direkt auf sie zu.
Angel wollte abhauen, aber Cat hielt sie zurück. »Versau mir das ja nicht«, brummte sie.
Er blieb vor ihr stehen und ließ seinen Blick an ihr hinuntergleiten. »Kätzchen«, sagte er und streifte ihren Unterarm. »Es freut mich, dass du den Weg gefunden hast.«
Cat neigte den Kopf und strich sich ihre Haare hinter die Ohren. Sein Blick wanderte über ihren Hals. Dann sah er zu ihrer Freundin. Die starrte ihn nur mit weit aufgerissenen Augen an.
»Und das ist Angel, sie ist ein bisschen schüchtern«, sagte Cat.
»Wow, ein Name, der kaum treffender sein könnte! Es freut mich, ich bin Killian.«
Endlich kannte sie den Namen ihres Zukünftigen. Killian Russo – wie gut klang das bitte? »Das, was du eben gespielt hast … wie heißt das Lied?«, fragte sie.
»Ich habe keinen Namen dafür. Es ist eine Ballade, sie ist von mir.«
»Echt? Wie abgefahren! Und worum geht es darin?«
»Ich komme gleich wieder«, hörte sie Angel sagen.
»Danke«, hauchte ihr Cat zu.
✽✽✽
Evangelista tauchte in die Menschenmenge ein, sie näherte sich einer Panikattacke. Cat wusste nichts von ihren Träumen. Nur Harsen, die Psychologin aus dem Heim, war eingeweiht. Noch nie in ihrem ganzen Leben war Evangelista jemandem aus ihren Träumen begegnet.
Sie drängte sich in Richtung Verschlag, blieb stehen, schaute zurück zum Feuer.
»Neu hier?«, sagte jemand hinter ihr.
Sie drehte sich um und sah auf ein grün kariertes Hemd. Der Blondschopf von vorhin, mit der schief aufgesetzten Schiebermütze, mindestens zwei Köpfe größer als sie, stand vor ihr.
»Auf der Durchreise«, sagte sie und schaute wieder zum Feuer.
Cat lachte, ihre Creolen reflektierten das Feuerlicht.
Der Junge zog an einer Zigarette und folgte ihrem Blick. »Unser Killian kann sie eben alle haben«, sagte er und blies den Rauch hinauf zu den Sternen.
Mit seinem Hemd fiel er eigenartig auf, Evangelista fand es gut.
Sie warf ihre Haare, auf die Weise, wie Cat es tat, zurück. »Hast du eine?«, fragte sie.
Der Blondschopf griff in seine Jeans, übergab ihr eine Zigarette, trat näher und gab ihr windgeschützt Feuer. Evangelista bemerkte eine frische Narbe. Sie zog sich von seiner Handinnenfläche bis über den Unterarm.
Er fing ihren Blick auf. »Zu meiner Verteidigung: Es ging um die Ehre eines Mädchens.«
Evangelista zog an der Zigarette und ließ den Rauch in ihre Lungen strömen. Sie hatte erwartet, dass sich ihre Lunge erinnern würde, aber stattdessen gab sie einen erstickten Laut von sich.
Sein Mund formte ein träges und unverschämt gewinnendes Grinsen. »Süß«, kommentierte er.
Sie ließen sich am Verschlag nieder, unterhielten sich über die Sommerdürre und die Stürme, die in den nächsten Tagen erwartet wurden. Er besorgte ihr eines dieser Fläschchen. Das Zeug brannte in ihrer Kehle, aber es beruhigte sie. Sie trank ein zweites und ein drittes zur Hälfte. Das Paffen gelang ihr mit der Zeit besser.
Der Blondschopf schwärmte von dem Hof, auf dem er lebte, und seinen Maschinen, die er mit eigenen Händen wieder zum Laufen brachte – seine Augen strahlten vor Stolz. Evangelista war von seiner warmherzigen Art und den zerzausten blonden Haarsträhnen fasziniert.
»Hey Mann! Du bist seit einer halben Stunde mit der Schicht dran«, unterbrach sie plötzlich ein Fremder.
Der Blondschopf, dessen Namen sie nicht kannte, entschuldigte sich und sie verabredeten sich für nach der Schicht. Evangelista sagte zu, obwohl sie genug hatte.
Sie lief zurück zum Feuer. Cat saß auf Killians Schoß. Er vergrub sein Kinn in ihrem Nacken, und sie kicherte.
Evangelista wusste genau, dass sie Ärger bekommen würde, wenn sie Cat störte. So ein Mist, dachte sie. Aber sie musste dringend auf die Toilette, also folgte sie einem Mädchen, das hinter dem Verschlag verschwand.
Ein dicker Junge, beschäftigt mit seinem Reißverschluss, rempelte sie um.
»Hey Deern!« Er berührte sie am Arm.
Evangelista drehte auf dem Absatz um und lief zur anderen Seite des Verschlags, aber dort wuchsen die Büsche zu dicht. Abseits des Gedränges stieg ihr der Alkohol zu Kopf. Der Boden war uneben, sie stolperte mehrmals.
Sie lief am Feldrand entlang, weit genug, dass sie niemand sehen konnte. Die Waldflanke endete am steilen Abhang. Sie trat ein paar Schritte ins Gras und pinkelte.
Etwas huschte über ihre Füße. Sie unterdrückte einen Schrei, sprang aus dem Gras und schüttelte ihre Beine. Ein Schwall von Insekten wimmelte dort, wo sie eben gesessen war. Sie unterdrückte ein Würgen, fluchte laut und schwor, Cat sofort zu bitten, mit ihr von hier fortzugehen.
Da hörte sie ein leises Wimmern.
Sie drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Am Ende des Pfades stand eine Gestalt, klein wie ein Kind.
Ein Kind, so nah am Abhang – das bedeutete nichts Gutes.
Evangelista näherte sich zögerlich.
Ein kleines Mädchen, nackt und fast bläulich, rieb sich die Augen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Evangelista und ging in die Knie.
»Meine Eltern«, stieß das Mädchen schluchzend hervor. Ihre blonden Ringellocken fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht.
»Wo sind deine Eltern?«
»Da hinten!« Das Mädchen zeigte auf die Baumreihe vor dem Hang.
»Okay, lass mich kurz überlegen. Wir laufen zusammen zurück und rufen Hilfe, in Ordnung?«, sagte sie und nahm zögerlich die Hand des Mädchens – sie war eiskalt.
»Aber sie sind gleich da hinten.« Das Mädchen zog sie mit einer unnatürlichen Kraft in den Wald. »Sie brauchen Hilfe!«
Die Bäume öffneten die Sicht auf das Tal. Am Grund blitzten Scheinwerfer auf. Etwas klatschte auf ihre Schulter. Evangelista schlug das Insekt fort.
Das Mädchen beschleunigte das Tempo. »Nicht so schnell«, rief sie.
Das Mädchen lachte. Warum lacht sie?
Im Mondschein erkannte Evangelista immer mehr Kleintiere. Sie sprangen zu allen Seiten fort. Ein Rabe stürzte von einem Ast und verfehlte sie nur knapp.
Evangelista stolperte und fiel.
Das Mädchen drehte sich um.
Evangelista konnte es nicht fassen: Vor ihr stand sie selbst. Es war, als würde sie in einen Spiegel blicken. Doch ihre Doppelgängerin hatte einen zu einer Fratze verzerrten Mund und Augen wie aus Stein.
Plötzlich bröckelten Teile dieses Wesens. Diese Stücke bewegten sich auf sie zu.
Spinnen, mit Körpern wie Perlen und rasiermesserscharfen Beinen, kletterten ihre Schenkel hoch, sprangen auf ihre Hände und erreichten ihre Brust. Die Felsspalten spuckten Insektenschwärme aus.
Sie schlug die Spinnen weg, versuchte sie von sich fernzuhalten, doch es kamen immer mehr nach.
Die Spinnen machten Evangelista blind, krochen in ihre Nasenlöcher, raubten ihr die Luft zum Atmen.
Werde ich so sterben? Ging es ihr durch den Kopf. Nein!
Evangelista stieß sich mit aller Kraft ab. Sie kippte und prallte gegen einen Baumstamm. Blind stieß sie sich erneut ab und fiel.
Ihr Körper schlug aufs Neue gegen einen Stamm und ihr Schienbein gab ein knackendes Geräusch von sich. Über Wurzeln und Sträucher schlitternd, stürzte sie abermals, landete im Laub und rollte einen Abhang hinunter. Sie überschlug sich und rutschte weiter, bis sie mit voller Wucht auf einer harten Platte aufschlug.
In ihren Ohren klingelte es, ein warmer, metallischer Geschmack füllte ihren Mund. Ihre Finger ertasteten eine ebenmäßige Oberfläche.
Sie rollte sich auf die Seite und öffnete langsam die Augen. Asphalt!
Etwas oberhalb sah sie die Scheinwerfer eines sich nähernden Fahrzeugs.
Sie stemmte sich auf die Knie.
Als das Fahrzeug aus der Kurve kam und seine Scheinwerfer sie blendeten, riss sie die Arme hoch.
Reifen quietschten, gefolgt von einem Knall.
Ein Hagel aus Steinen schlug auf sie ein und auf einmal wurde alles still. So still wie an einem windstillen Nachmittag auf ihrem alten Kutter.
Der Asphalt verschwamm vor ihren Augen und gab den Blick frei auf die unendliche Weite des Meeres. Die Sonne kitzelte auf ihrer Haut. Die Wasseroberfläche war glatt wie ein Spiegel und der Horizont in weißes, gleißendes Licht gehüllt, als wäre gleich dahinter der Rand der Welt mit dem kosmischen Wasserfall. Sie spürte die Wärme der Sonne auf ihren Wangen.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Dort unten ist nichts Bedrohliches, nur deine Ängste«, hörte sie die Stimme ihres Vaters.
»Ich habe keine Angst«, log sie. In der vergangenen Nacht hatte sie geträumt, wie sie im kalten Wasser ertrank.
»Hallo?« Sie hörte eine Stimme jenseits des Meeres.
Nicht jetzt. Sie schüttelte den Kopf und fixierte die spiegelglatte Wasseroberfläche. Doch sie brachte es nicht über sich, in das dunkle Wasser zu springen.
»Hallo?« Die Stimme schien über ihr zu schweben.
Dunkelheit kehrte zurück, gleichzeitig verschwand die Wärme. Das Meer löste sich auf. Sie blickte in ein Gesicht.
Er schaute sie an.
Unmöglich! Ihre Hände bewegten sich wie von selbst. Sie berührte vorsichtig seine Wange. Seine Haut fühlte sich real an. Dunkle Augen wanderten über ihr Gesicht. Sein Anblick war atemberaubend, doch sie besann sich.
»Hast du die Rechner gesprengt?«, flüsterte sie.
Sein Ausdruck veränderte sich schlagartig. »Wer bist du?«, zischte er.
In seinen Augen war es deutlich zu sehen: Er hatte keine Ahnung, wer sie war.
Ihre Welt zerbrach. Schmerzen, wie sie sie nie zuvor gekannt hatte, durchzuckten ihren Körper. Sie rang nach Worten, nach Luft, doch es gelang ihr kaum mehr zu atmen. Sie beugte sich vor und erfüllte sich einen letzten Wunsch.
Als sich ihre Lippen berührten, schien die Welt für einen Herzschlag den Atem anzuhalten. Es war, als hätte jeder Moment ihres Lebens sie unweigerlich an diesen einen Punkt geführt. Und jetzt, da der Junge Wirklichkeit geworden war, umhüllte sie eine Dunkelheit – still und kalt, wie in bodenlosem Wasser, in dem es kein Oben und kein Unten gab.
Evangelista hörte ein metallenes Ächzen. Hinter ihren geschlossenen Augenlidern flackerte es hell auf. »Was zum Teufel ist da oben los?«, schrie eine raue Männerstimme. Dann wurde es wieder dunkel.
Ein hämmerndes Geräusch riss sie aus ihrem Dämmerzustand. Sie öffnete die Augen und blickte direkt in seine.
»Sie wacht auf.«
In diesem Moment realisierte sie, dass ein Schlauch in ihrem Hals steckte. Panik überkam sie, aber sanfte Hände umfassten ihr Gesicht. Lyla? Wie kam denn Lyla hierher?

Evangelista fuhr mit der Zunge über ihre zersprungenen Lippen. Der Durst war überwältigend. Sie öffnete die Augen und sah auf ein verwittertes Holzbrett.
Wo zum Teufel bin ich?
Sie rollte sich herum und stellte fest, dass sie in einem Holzverschlag auf ein paar zusammengeschobenen Kisten lag. Durch die Lücken zwischen den Brettern konnte sie eine grüne Wiese erkennen. Die Tür des Verschlags stand halb offen.
Evangelista rutschte von den Kisten und taumelte hinaus. Draußen blendete sie die Sonne. In der Ferne summten die Drohnen der Falken. Sie tastete ihre Hosentaschen ab, kein Spiegel, kein Schlüssel. Evangelista ließ ihren Blick über die Hügel schweifen und entdeckte das Haus ihrer Tante. Es lag in Sichtweite, ein oder zwei Kilometer entfernt.
Ihre Beine setzten sich wie ferngesteuert in Bewegung. Sie überquerte das Feld und folgte der schmalen Straße quer über die Wiesen hinauf zum Hügel.
Die Bewohner der Arche standen vor ihren Häusern, gestikulierten wild und zeigten zu der Stelle, über welcher die Drohnen kreisten. Evangelista ging an ihnen vorbei und erreichte das Haus ihrer Tante.
Lyla rannte ihr entgegen. »Da bist du ja endlich!«
»Trinken«, sprach Evangelista mühevoll und schritt an Lyla vorbei.
Lyla holte sie wieder ein. »Draußen ist ein furchtbarer Unfall passiert. Dort, wo wir gestern vorbeigefahren sind. Ein Auto ist in die Schlucht gestürzt.«
»Es war ein Bus«, sagte Evangelista.
Sie erreichte die Tür und griff nach der Klinke. In diesem Moment spürte sie ein Kribbeln auf ihrem Arm.
Eine Bilderflut rollte über sie. Sie schüttelte panisch die Arme. »Was ist denn los Liebes?«
Evangelista blickte an sich hinab und bemerkte, dass ein kleines Blatt auf ihrer Schulter gelandet war.
»Nichts. Alles in Ordnung. Ist Cat schon da?«
»Evangelista, Cat ist nicht hier.«
»Aber dann ist sie noch im Wald, wir müssen sie holen!«
»Mein Schatz, Cat ist doch gar nicht mitgekommen – weißt du das nicht mehr?«
»Wie meinst du das? Wir waren gestern alle zusammen hier, ich, du und Cat.«
»Nein, Liebes, nur du und ich.« Evangelista blinzelte. War das alles nur ein weiterer Traum? »Ich bin doch nicht verrückt, du hast für Cat eine Sondergenehmigung organisiert.«
»Jetzt überleg doch mal, das ist doch gar nicht möglich. Fremde können nicht in der Arche herumspazieren.«
»Fremde …«, wiederholte sie. Plötzlich entwich alle Kraft aus ihren Beinen, sie strauchelte. Lyla stützte sie.
»Komm mit.« Lyla schob sie den Flur hinunter und setzte sie auf das Sofa.
»Da war ein kleines Mädchen am Abgrund, ich wollte nur helfen. Der Bus, er hat mich fast umgefahren. Es war keine Absicht«, begann sie zu erzählen. Andererseits, wenn das alles nur ein Traum war, wozu etwas erklären?
»Warte einen Augenblick«, sagte Lyla. »Ich rufe Harsen.«
Ihre Zähne klapperten, aber nicht vor Kälte. Wo war sie nur hineingeraten? Wenn sie ihren eigenen Augen und Sinnen nicht mehr trauen konnte, wem denn dann?
Die Erinnerungen an die letzte Nacht drohten sie zu überwältigen, doch sie klammerte sich verzweifelt an das Bild seines Gesichts – dem Gesicht des Jungen, von dem sie ihr halbes Leben lang geträumt hatte. Sie schloss die Augen, um das Gefühl seines Kusses wiederzufinden.
»Angelika Harsen?«, hörte sie Lyla sagen. »Es ist dringend.«
Es dauerte nicht lange, bis sie das vertraute »Ich sehe«, hörte. Sie öffnete die Augen und blickte auf die Projektion ihrer ehemaligen Heimpsychologin Dr. Harsen.
»Gib ihr Schlafmittel, ich bin in ein paar Stunden da«, sagte Harsen knapp und ihr Bild flackerte auf, um kurz darauf ganz zu erlöschen.
Evangelista stieß einen verächtlichen Laut aus. Nicht schon wieder!
In diesem Moment krachte ein Vogel gegen die Fensterscheibe. Evangelista starrte auf den roten Fleck.
»Alles gut, das passiert manchmal«, versuchte Lyla sie zu beruhigen. Sie geleitete sie zum Bett und half ihr, sich auszuziehen.
»Ich habe ihn endlich getroffen«, stammelte sie.
Lyla umarmte sie und sie sank in ihren Armen zusammen.
»Schon gut, meine Kleine. Schlaf ein wenig, dann wird es dir besser gehen«, sagte Lyla und reichte ihr eine Kapsel. Eine zweite legte sie in die Schublade des Nachttischchens.
Dichte, schwere Wolken türmten sich am Himmel. Ihre Augenlider fühlten sich bleischwer an, die Müdigkeit kroch in ihre Glieder.
Sie erlebte einen ungewöhnlichen Traum: Ein roter Sekundenzeiger drehte seine Runden. Auf einer Hälfte ratterte er laut, und sein Anblick erfüllte sie mit einer Angst, die sie bis ins Mark erschütterte.
Sie schlug die Augen auf, ihr Blick fiel auf eine Spiegelung, die die Silhouette eines Menschen draußen erahnen ließ. Doch als sie ein paarmal blinzelte, war die schemenhafte Gestalt wieder verflogen, als hätte sie nie existiert.
✽✽✽
Lyla tätschelte Evangelistas Schulter. »Wach auf Liebes!«
»Rückfälle sind üblich«, sagte Harsen trocken.
Lyla hatte gehofft, Harsen nicht so schnell wiederzusehen, aber Evangelista brauchte dringend jemanden, dem sie vertraute.
»Hörst du mich? Du hast Besuch.«
Sie öffnete mühsam die Augen.
Harsen saß auf der Bettkante und musterte Evangelista über ihre Hornbrille hinweg.
Lyla half ihr beim Aufrichten und reichte ihr ein Glas Wasser.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Harsen.
»Okay«, antwortete Evangelista.
»Nein, du weißt, wie es funktioniert. Was empfindest du?«, drängte Harsen. Evangelista verdrehte die Augen.
»In Ordnung, ich gebe dir Zeit«, sagte Harsen.
»Bist du nur meinetwegen gekommen?«, fragte Evangelista.
Harsen überschlug ihre dürren Beine. Es überraschte Lyla, Harsen in einer echten Jeans zu sehen.
»Ja, und für ein exklusives Sightseeing«, antwortete sie sarkastisch.
Evangelista richtete sich weiter auf. »Der Bus, waren da Menschen drin?«
»Liebes, das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, wich Layla aus.
»Acht«, antwortete Harsen.
»Verdammt, lass ihr doch Zeit«, fuhr Layla Harsen an.
Evangelista sah aus, als ob sie nachdenken würde.
Harsen stand auf. »Wir wollen dich nicht überfallen, aber draußen wartet ein Falke, er möchte dir ein paar Fragen stellen. Das schaffst du doch, oder?«
»Ja, ich denke schon.«
»Fein, ich warte dann draußen.«
Harsen schritt hinaus, wie es ihre Art war – mit der Haltung eines Generalobersts auf Stöckelschuhen.
»Schaffst du das wirklich?«, wollte Lyla wissen.
Evangelista nickte.
Lyla holte einen säuberlich zusammengelegten Stapel Kleidungsstücke. »Ich habe deine Kiste geöffnet, ist das in Ordnung?«
»Kein Problem.«
»Und ich habe ein paar Sachen gewaschen«, sagte Lyla und schaute schuldig zum Boden.
»Lyla?«
»Ja?«
»Aber Cat, sie war da, ich weiß es.«
Lyla konnte nicht mal erahnen, wie es sich anfühlen musste, wenn man Dinge sah, als würden sie tatsächlich geschehen. Ihre Magen knotete sich zusammen. Sie stellte es sich vor, wie in einem wahrhaftigen Alptraum gefangen zu sein. Sie wollte Evangelista so gerne helfen, doch leider wusste sie nicht, wie.
»Ich weiß, dass es für dich real ist. Das ist das Heimtückische an der Krankheit.« Sie half Evangelista beim Aufstehen.
»Danke Lyla, für alles, meine ich«, sagte Evangelista.
Lyla spürte, dass ihr die Tränen kamen.
Zusammen verließen sie das Zimmer.
✽✽✽
Frank strich mit den Fingern über sein auf Hochglanz poliertes Abzeichen. Es war seine erste Begegnung mit Lylas Mädchen. Warum zum Teufel war er vor einem Gespräch mit einer fast Siebzehnjährigen so nervös?
Er war der Oberfalke. Doch eines war klar: Er musste sich mit diesem Mädchen gut stellen – Lyla zuliebe. In der Fensterscheibe sah er sein Spiegelbild. Sein Blick blieb an seinen grauen Schläfen hängen. Lyla mochte sie.
Das Mädchen trat ins Wohnzimmer und nahm ihm gegenüber Platz.
Er räusperte sich. »Evangelista Stark?«
»Ja«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme klang dünn.
Lyla überschlug zum dritten Mal hintereinander die Beine. Harsen, die verflixte Furie, stand mit verschränkten Armen am Fenster und blickte betont unbeteiligt hinaus.
»Sie waren auf der Straße zu dem Unglückszeitpunkt?«
»Ja.«
Seine Novizin Thes schrieb; es war nicht zu übersehen, wie unwohl sie sich fühlte.
»Und wie sind Sie auf die Straße gekommen?«
»Ich bin gestürzt.«
»Gestürzt? Von wo?«
»Es gab eine Feier, gleich neben diesem großen Haus, wenn man hineinfährt«, erklärte sie.
»Die Studenten«, ergänzte Lyla. »Ich musste mal … und ich bin zu weit gelaufen.«
»Alkohol getrunken?«
Das Mädchen senkte den Blick. »Ja.«
Frank sah, wie ihre Fassade bröckelte. Thes versuchte sich an einem verständnisvollen Lächeln.
»Na gut. Haben Sie das Tier gesehen?«
»Welches Tier?«
»Na, das, was auf der Straße stand? Wegen dem der Bus von der Straße abkam«, half er ihr auf die Sprünge.
»Im Wald war ein Tier, auf der Straße war keins. Ist es eigentlich normal, dass hier so große Tiere herumspazieren?«
Lyla hatte vergessen, das Mädchen zu registrieren, und jetzt musste er das Schlamassel ausbaden.
»Ja, mein Schatz«, antwortete Lyla für ihn. »Es gehört zu unserer Lebensweise, aber sie sind nicht echt. Das Modell, das du gesehen hast, hatte einen Fehler.«
»Das im Wald?«
»Nein, das auf der Straße«, sagte Frank.
Die Novizin diktierte: »Modell Theron 32 gesehen, Unfallhergang beobachtet.«
»Nein. Ich habe es doch gesagt, auf der Straße war kein Tier! Ich war auf der Straße, ich habe versucht, auf mich aufmerksam zu machen.«
»Warum?« »Na, weil ich gestürzt bin, ich brauchte Hilfe.«
»Soweit ich sehe, sind sie unverletzt?«
»Aber ich war verletzt.«
»Ich sehe aber nichts.« Er beugte sich vor. »Überlegen Sie bitte: War da nicht doch ein Tier?« Er betonte jedes einzelne Wort und widerstand dem Drang, die Eindringlichkeit seiner Stimme durch seine Mimik zu unterstreichen. Er durfte nicht die Fassung verlieren. Wenn das Mädchen bei seiner Geschichte blieb … nicht auszudenken, was dann geschehen würde. Sie schien langsam zu verstehen.
»Ich glaube, ich habe doch einen Schatten gesehen.«
»Wunderbar«, sagte seine Novizin und stand auf.
Frank hob wortlos die Hand. Sie setzte sich wieder.
»Nur noch ein paar Formalitäten: Wie viel haben Sie getrunken?«
»Ich kann mich nicht erinnern.« »Medikamente?«, bohrte er weiter.
»Frank!«, unterbrach ihn Lyla. Sie sprach seinen Namen zu vertraut aus.
»Haben Sie etwas Außergewöhnliches gesehen?«, fragte er weiter.
»Was meinen Sie mit außergewöhnlich?«
»Es heißt, Sie sehen Dinge, die nicht da sind.«
Sie schwieg. Die Botschaft war angekommen.
»Notiere«, sagte er zu der Novizin. »Bin bereit.«
»Davongeschlichen. Stand zum Zeitpunkt unter dem Einfluss von Alkohol. Verlaufen und auf die Straße gestürzt. Ein Filmriss.« Er hielt kurz inne, fixierte den Blick des Mädchens. »Stimmt das so?«
»Ich kann mich nur wiederholen: keine Erinnerungen«, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
»Das war alles«, sagte Frank und stand ruckartig auf. Seine Novizin nickte dem Mädchen zu. »Sie werden sich einleben. Unsere Arche ist ein wunderbarer Ort, der schönste auf der ganzen Welt.«
»Danke«, entgegnete das Mädchen.
Frank verließ den Raum.
Lyla folgte ihm.
✽✽✽
Harsen legte ihre frisch manikürten Hände auf Evangelistas Schultern.
Draußen wurden Autotüren zugeschlagen und ein Motor heulte auf. Lyla kam herein und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.
»Komm, lass uns ein bisschen nach draußen gehen, ich brauche dringend frische Luft«, sagte Harsen zu Evangelista.
»Gerne«, antwortete diese.
Lyla zog ihre Strickjacke aus und gab sie dem Mädchen.
»Geht aber nicht zu weit weg, die ersten Sturmausläufer kommen in ein paar Stunden!«
Harsen ging voraus, Evangelista folgte ihr. Sie spazierten eine Weile schweigend nebeneinander.
Harsen blieb an jedem Gartentor stehen und las die Willkommenssprüche.
Tritt ein mit reinem Herzen– unser Messias führt uns in eine bessere Welt.
Hier wächst nicht nur ein Garten, sondern die auch die Seele.
Schließlich gab sie auf. »Noch einen und ich muss kotzen.«
Evangelista lachte auf und sie gingen weiter.
»Willst du nicht fragen, wie ich mich fühle?«, fragte Evangelista.
Harsen war es gleichgültig. Sie zuckte die Schultern.
»Nein. Und du musst mir nichts erzählen. Ich nehme an, dass ich dein Protokoll zu dieser skurrilen Geschichte in ein paar Tagen bekomme?«
»Ja, bekommst du. Aber jetzt mal ehrlich, warum bist du hier?«
»Ich habe so etwas schon erwartet. Du hast viel durchgemacht, aber du machst auf mich einen guten Eindruck. Es war nur ein Rückfall.«
»Rückfall?« Harsen verkniff sich einen Seufzer. Jetzt musste sie doch noch etwas Schlaues vorbringen. »Rückfälle sind unvermeidlich, doch entscheidend ist dein Umgang mit ihnen. Du wurdest aus deiner sicheren Umgebung herausgerissen, die psychische Belastung ist nicht zu unterschätzen – in Anbetracht dessen, was mit deinem Vater vor wenigen Monaten geschehen ist«, erklärte sie.
Mit geschehen meinte sie, dass sich sein Gehirn zersetzt hat, weil er zu lange online im Ring gewesen war. Wäre seine technologische Ausrüstung besser gewesen, nicht so alt, so verschlissen, so fehleranfällig, vielleicht hätte er seiner Tochter diesen Schicksalsschlag ersparen können. Schade, ein tapferer Mann. Nur seine Frauenwahl war bescheiden gewesen. Aber war das nicht immer so? Außergewöhnliche Männer hatten schon immer eine Schwäche für zerbrechliche Frauenzimmer – genau wie Frank. Wie auch immer, ein entflohener Falke wäre niemals zurückgekehrt. Der tollkühne Plan seiner Tochter war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.
»Wie geht es Cat?«, fragte Evangelista betont beiläufig.
»Oh, Cat ist unbeschwert wie eh und je. Sie freut sich für dich, aber ihre neue Zimmernachbarin hat es nicht leicht.«
Harsen musste grinsen, weil das gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.
Sie beendeten ihren Rundgang.
Lyla wartete bereits wie ein Wachhund vor der Tür.
»Schon gut, ich bleibe nicht zum Essen. Ich fahre ins Zentrum, ruf schon mal eine der grünen Kisten«, rief Harsen ihr zu.
»Ich habe schon eine gerufen, als ich euch gesehen habe. Siehst du? Da kommt sie schon«, entgegnete Lyla.
Harsen wandte sich Evangelista zu. »Ich habe nur eine Frage. Dein Traum – du weißt, welchen ich meine – hat er sich verändert?«
Evangelista blickte ihr direkt in die Augen. »Es tut mir leid, ich habe getrunken, ich kann mich nicht erinnern.«
Kleines Biest, dachte Harsen und grub ihre Fingernägel in Evangelistas Schulter.
»Schon gut. Denk daran, ich will deine Protokolle haben.«
Lyla trat zu ihnen. »Sorge dafür, dass sie alles aufschreibt«, sagte Harsen und sprang in das Solarauto.
Lyla ignorierte sie.
✽✽✽
Evangelista war es nicht gewohnt, in Gesellschaft zu essen. Der einsetzende Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und füllte die Gesprächspausen.
Die klare Brühe roch nach Sud aus Rind, Zwiebeln, Ingwer und Gewürzen wie Sternanis und Zimt. In der Schüssel befanden sich Reisnudeln. Evangelista war beeindruckt von den frischen Kräutern.
»Es tut mir leid, wegen des Spiegels.«
»Schon gut, du kannst nichts dafür. Du bekommst einen neuen, aber es dauert ein paar Tage, bis er eingerichtet ist.«
»Kann ich deinen kurz ausleihen?«
»Was willst du denn damit?«, wollte Lyla wissen.
»Ich will die Meldungen lesen.«
Lyla schob ihr widerstrebend ihren Spiegel zu. »Du hast genau fünf Minuten, solange wie ich das Geschirr wegräume.«
Evangelista öffnete die erste Meldung. Sie war um 2:33 Uhr eingegangen und bestand nur aus einer kurzen Schlagzeile. »Erster menschengemachter Unfall seit einem Jahrzehnt – und das ausgerechnet in einer Arche.« Anschließend folgten Berichte über die Bergungsarbeiten, untermalt von verschwommenen Bildern: Falken, die über den Baumwipfeln am Berghang schwebten. Kurz vor 5 Uhr hatte die Arche eine offizielle Stellungnahme veröffentlicht: »Wir bedauern das Unglück zutiefst. Derzeit überprüfen wir, ob analoges Fahren in unserer Organisation noch vertretbar ist.« Die nächste Meldung kam aus CapsuleHaven1032, die Schlagzeile lautete: »James Grimes, einziger Überlebender: Busfahrer rettete sich in letzter Minute.« Unter der Überschrift war ein Foto abgebildet – ein Gesicht, das Evangelista unwillkürlich an eine Teigtasche mit Brille erinnerte.
»Nein!«, entfuhr es ihr.
Lyla zuckte. »Was ist?«
»Das ist er nicht«, sagte sie und bereute es sofort.
»Wer denn?«
Evangelista schwieg, und Lyla machte wortlos weiter.
»Warum hat Frank nichts von dem Busfahrer gesagt?«, fragte Evangelista nach einer Weile.
Lyla polierte den Topf. »Keine Ahnung. Vielleicht dachte er, es sei unwichtig?«
»Unwichtig?«, fragte Evangelista.
Lyla schritt auf sie zu, nahm ihr den Spiegel aus der Hand und ließ ihn in ihre Schürze gleiten. »So, genug für heute.«
Zurück in ihrem Zimmer zog sie sich die Decke bis unter das Kinn und starrte hinaus. Ein heftiger Föhnwind kam auf und heulte mit solcher Kraft durch das ganze Haus, dass die Wände zu vibrieren schienen.
Evangelista kletterte aus dem Bett und ging zu der Kiste mit ihren Habseligkeiten. Sie wühlte darin herum, bis sie einen wasserdichten Beutel fand – einen, den ihr Vater früher für die Fische benutzt hatte. Darin lag ein vergilbtes Blatt, ein Brief, den sie mit elf Jahren geschrieben hatte – an den Jungen aus ihren Träumen.
Die ersten Regentropfen fielen. Der Wind tobte so heftig, dass es schien, als wolle er die Bäume aus der Erde reißen. Der Regen ging in peitschenartige Schauer über. Der Wolkenbruch dauerte nur wenige Minuten und plötzlich war alles wieder still. Nasse Blätter glänzten im Schein der Laterne. Zunächst blieb es windstill, doch dann kehrte der Föhn zurück und alles begann von Neuem.
Sie kletterte in ihr Bett, schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein.
Evangelista träumte den Traum ihrer Kindheit – denselben, den sie schon hunderte Male geträumt hatte. Wieder stand er dort, vor der gigantischen Maschine, die wie ein schwebender Koloss von der Decke eines gewaltigen Saals hing. Ein Wunderwerk aus goldenen Rohren, funkelndem Glas und Schläuchen, die wie lebendige Adern pulsierend aus ihrem Kern wuchsen. Sie sah ihn, wie er sich der Maschine näherte. Dieses Mal drehte er sich halb um, und auf seinen Lippen lag ein Lächeln – als wüsste er etwas, das sie nicht wusste. In seiner Hand hielt er etwas, das sie nicht erkennen konnte. Da geschah es wieder: Schläuche lösten sich und glitten lautlos herab. Sie reckten sich ihm entgegen, ihre Enden öffneten sich weit – als wollten sie ihn willkommen heißen. Oder ihn verschlingen.
Evangelista wurde von einem Geräusch aus dem Traum gerissen. Schritte bewegten sich um ihr Bett. Sie spürte einen Luftzug.
Ihre Instinkte waren wach und bereit, aufzuspringen, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ein regelmäßiger Atmen war zu hören. Dann entfernten sich die Schritte.
Sie war sich nicht sicher, ob der Eindringling den Raum verlassen hatte, bis die Terrassentür zufiel.
Evangelista riss die Augen auf und sprang aus dem Bett. Sie zögerte nur einen Augenblick, bevor sie hinaustrat. Eine dichte Nebelwand hüllte das Haus ein.
Schnell lief sie über die Steinterrasse um das Haus herum.
Auf dem Weg hinauf zum Wald sah sie eine Silhouette – es war er, da war sie sich sicher. Er stand fast am Waldrand und war kaum mehr als ein Umriss. Sie meinte zu sehen, wie er sich herumdrehte.
Ihre Knie wurden weich, sei es wegen des Adrenalinschubs oder aus Angst vor der Begegnung.
»Bitte, ich suche dich schon so lange«, sagte sie und machte einen Schritt auf ihn zu.
Der Umriss blieb regungslos.
»Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich glaube, wir sind miteinander verbunden«, sagte sie.
Seine dunkle und laute Stimme zerriss die Stille, die sich über sie gelegt hatte. »Ich habe deinen verdammten Brief gelesen. Hör auf, mich zu verfolgen. Ich bin nicht der, den du in deinen Träumen siehst!«
Tränen schossen ihr in die Augen, sie musste ihre Stimme beherrschen.
»Aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich habe keine Ahnung, warum ich von dir träume!« Ich habe mir nicht ausgesucht, dass ich dich liebe, fügte sie in Gedanken hinzu.
Es gelang ihr nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten.
Ein Knacken, und der Umriss löste sich im Nebel auf.
»Warte!«, rief sie und stürmte zum Häuschen – hier war es dunkler, die Schatten schwerer. Etwas hielt sie zurück. Sie lauschte in alle Richtungen, doch die Stille war tief und unermesslich – kein Laut drang mehr an ihr Ohr.
Evangelista versuchte, die Umgebung mit ihrem Blick zu durchdringen. Vergeblich.
»Antworte, bitte«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Der Traum – er hat sich trotz alledem nicht geändert.«
Lieber Leser, du hast das Ende der Leseprobe erreicht. Falls du wissen möchtest, wie es weitergeht, die Geschichte von Evangelista und Travor erscheint am 19.04.2025
als Ebook und Taschenbuch!

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